Deutschlandweit finden aktuell Streiks im Öffentlichen Dienst und von Busfahrerinnen und Busfahrern statt. Die Freiheitsliebe hat mit unserem Bundessprecher Jan Richter über den Tarifkonflikt, Umverteilung und die Rolle der Partei DIE LINKE gesprochen. Wir spiegeln es hier auf unserer Seite.
Die Freiheitsliebe: Aktuell finden Streiks und Proteste im Öffentlichen Dienst statt, was sind die Forderungen der Gewerkschaften?
Jan Richter: Es geht um mehr Lohn und Entlastung für diejenigen, die unser Land am Laufen halten. 4,8 Prozent mehr, mindestens aber 150 Euro plus eine Erhöhung der Azubi-Vergütung um 100 Euro und eine Übernahmegarantie. Bestehende Regelungen zur Altersteilzeit sollen verbessert und verlängert und Arbeitszeiten im Osten an die im Westen angeglichen werden. Es geht um zusätzliche freie Tage zur Entlastung, Regelungen zu Wechselschichten und höhere Sonntagszuschläge.
In den Medien wird über den Zeitpunkt gemeckert und dass ver.di es wagt, während Corona zu protestieren. Wollten die Gewerkschaften, die Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt?
Als ob es jemals den richtigen Zeitpunkt für Streiks gegeben hätte. Sobald der Dienstleistungssektor streikt und nicht Produkte, sondern Endverbraucher, Kunden oder Passagiere betroffen sind, wird Stimmung gemacht. Bei den Lokführern, Erzieherinnen, Piloten oder dem Bodenpersonal an Flughäfen wurde medial mehrfach die Schwelle des Zumutbaren überschritten, um die Streiks der Kolleginnen und Kollegen zu diskreditieren.
Streiks verursachen aber diejenigen, die keine höheren Löhne zahlen wollen, und nicht diejenigen, die dafür kämpfen. Das bleibt meistens unerwähnt, als ob es im Vorfeld keine Verhandlungen mit den Arbeitgebern gegeben hätte. Man bringt bewusst gesellschaftliche Gruppen gegeneinander in Stellung und die Arbeitgeber können sich entspannt zurücklehnen und sich die Hände reiben. Umso wichtiger ist Gegenöffentlichkeit in linken Medien, Blogs oder Social Media.
Die Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst sind Politikerinnen und Politiker. Verhandelt wird mit dem Bundesinnenminister und auf der kommunalen Ebene mit Bürgermeistern und Kämmerern. Macht das einen Unterschied?
Ich sag mal so: Namen merken und abwählen! Diese Leute bringen bewusst die Gesellschaft in Konfrontation zu den Streikenden und eskalieren rücksichtslos nach dem Motto „teile und herrsche“. Sie setzen die Beschäftigten in Zeiten einer Pandemie bewusst dem Risiko aus, sich kollektiv wehren zu müssen – ermahnen uns aber tagein und tagaus, Abstand zu halten, oder predigen Solidarität. Vor allem die Appelle zur Solidarität finde ich zunehmend unerträglich, presst doch die Bundesregierung selbst in Zeiten einer Notlage ihr System der Ungleichheit durch. Auch die Dynamik dieser Pandemie bereitet mir Sorge. Die Bereitschaft, grundlegende Arbeitnehmer- und auch Freiheitsrechte einzuschränken, ist spürbar. Demonstrationen wurden schon aus Infektionsschutzgründen gekippt. Ich befürchte, dass auch bald Arbeitskämpfe im Keim erstickt werden könnten, gerade jetzt, wo die Infektionszahlen wieder steigen.
Unter den Streikenden sind auch viele Protestierende aus dem Pflegesektor, also jene, für die noch vor wenigen Monaten geklatscht wurde. Wie hat sich die Haltung zu ihnen verändert?
Meiner Beobachtung nach genießen die Beschäftigten im Pflegesektor weiterhin gesellschaftliche Anerkennung. Trotzdem sollen auch sie verzichten. Nur sagt man das nicht so direkt, sondern schwurbelt rum. Vor den Herbstferien hat die Linke im Bundestag die Tarifrunde thematisiert. GroKo, Grüne und FDP fanden in der Debatte viele Worte der Anerkennung für die Beschäftigten in der Pflege. Aber sobald es konkret wird, schalten sie auf Autopilot und predigen „Maß und Mitte halten“. Unsere Dienstleistungsgesellschaft ist eben oft nicht viel mehr als eine Dienstbotengesellschaft. Statt anständig hoher Bezahlung und guter sozialer Absicherung reicht es im Zweifel nur für Applaus und ein kostenloses Dankeschön. Weite Teile der Beschäftigten sollen den Gürtel enger schnallen und sind zudem einer ungewisseren Zukunft ausgesetzt.
Als einzige Partei hat die Linke sich bisher klar hinter die Forderungen der Gewerkschaften gestellt. Aus den anderen Parteien kommt die Kritik, dass das nicht bezahlbar. Trifft das zu oder gibt es eine Idee, wie die Kosten bezahlt werden sollen?
Geld ist genug da, es ist eine Frage der Verteilung. Die Umverteilung von unten nach oben geht schamlos weiter. Da ändert auch eine Pandemie nichts dran, sie beschleunigt diesen Prozess eher: Vermögende und Spitzenverdiener sind bislang die klaren Gewinner, auch durch die über die öffentliche Hand ausgereichten Finanzmittel zur Stabilisierung der Einkommen und Konjunktur. Das Vermögen der Superreichen wuchs im zweiten Quartal 2020 um vier Prozent (ca. 250 Milliarden Euro). Das hat nichts mit Leistung zu tun, sondern mit Besitz.
Zur gleichen Zeit plagen Millionen Gering- und Normalverdiener Einkommensverluste und Existenzängste aufgrund von Kurzarbeit und Jobverlust.
Das ist das Ergebnis politischer Entscheidungen. Die Tarifrunde im Öffentlichen Dienst ist der Auftakt für die Frage, wer die Kosten der aktuellen Krise bezahlen soll. Wohin die Reise geht, zeichnet sich bereits ab: Seehofer und Bürgermeister fordern von den Beschäftigten die Bereitschaft zum Verzicht, bleiben allerdings passiv bei der Einführung einer einmaligen Vermögensabgabe, die Reiche zur Finanzierung der Krisenkosten heranziehen würde. So eine Haltung nimmt schwache Schultern in die Verantwortung, weil sie starke Schultern entlasten möchte. Von einer effektiven Besteuerung von Erbschaften oder Vermögen mal ganz abgesehen.
Welche Rolle spielt darin Die Linke?
Die Linke hat u.a. ein Konzept entwickelt, welches die beitragsfinanzierte Sozialversicherung auf der einen und die steuerfinanzierte Mindestsicherung auf der anderen Seite zusammenbringt. Die Tarifrunde ist eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung um Verteilungsgerechtigkeit und um die Frage, was uns öffentliche Daseinsvorsorge, die Betreuung unserer Kinder, die Pflege in Altenheimen und Krankenhäusern oder die öffentliche Müllabfuhr wert sind. Und sie ist ein Testlauf dafür, ob wir als Partei in der Lage sind, die anstehenden Verteilungskämpfe gemeinsam zu führen. Selbstverständlich ist unser Platz an der Seite der streikenden Kolleginnen und Kollegen. Aber die Linke muss mehr noch zum Organisator breit aufgestellter Antikrisen-Bündnisse werden, die uns in die Lage versetzen, die Verteilungskämpfe gemeinsam zu führen. Die Streiks der Kolleginnen und Kollegen im Öffentlichen Dienst sind deutlich mehr als nur eine Tarifrunde. Sie sind der Auftakt für weitere Auseinandersetzungen zur Verteilungsgerechtigkeit.
Weil eine starke Branche wie der Öffentliche Dienst mit einem guten Abschluss zur Messlatte und Orientierung für Abschlüsse in anderen Bereichen werden kann?
Genau. Aber nicht nur das Ergebnis allein, sondern vor allem wie diese Auseinandersetzung geführt wird, entscheidet über Niveau, Stimmung und Erfolg weiterer Auseinandersetzungen. Will sagen: Kämpfen heute die Beschäftigten in unseren Krankenhäusern, unserer Müllabfuhr oder unseren Kindergärten allein, dann tun das vermutlich morgen auch die Busfahrer und übermorgen die Beschäftigten der Automobilzulieferer. Sozialer Fortschritt wird immer erkämpft. Dafür ist die Arbeit in Gewerkschaften zentral.
In der Krise sind auch in Deutschland die Reichen reicher geworden, warum weigern sich die etablierten Parteien, diese Vermögen anzutasten?
Weil es dazu Arsch in der Hose braucht. Ich bin sehr stolz darauf, dass die Linke keine Spenden von Unternehmen annimmt. Die anderen Parteien haben kein Problem damit, sich von den Quandts, den Klattens oder Arbeitgeberverbänden sponsern zu lassen. Dafür schauen sie bei den Vermögen dann nicht so genau hin oder sind immer ganz überrascht, wenn mal wieder ein Steuerschlupfloch in Milliardenhöhe öffentlich wird. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing …
Viele Linke fordern, dass die Reichen für höhere Löhne und bessere Sozialleistungen zahlen sollen. Wie aber können solche Forderungen gestärkt werden? Welche Möglichkeiten bieten Proteste und Streiks?
Mir fällt spontan keine sozialpolitische Errungenschaft ein, die nicht im Vorfeld erkämpft werden musste. Als Linke geht es uns darum, den Sozialstaat sozialer zu machen. Das Grundprinzip ist Solidarität: Starke Schultern sind an der gemeinsamen solidarischen Absicherung gegen die Risiken des Erwerbslebens, wie Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit, stärker zu beteiligen.
Im Kern geht es darum, für eine gute soziale Sicherung zu sorgen und diese gerecht zu finanzieren. Hierzu sollen unter anderen die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme, Zusatzbeiträge und Zuzahlungen und die damit verbundenen Kürzungen beim Niveau der sozialen Sicherung zurückgenommen, prinzipiell alle Einkommensarten zur Finanzierung einbezogen, die Beitragsbemessungsgrenzen erhöht beziehungsweise aufgehoben und die paritätische Beteiligung der Arbeitgeber zumindest garantiert, wenn nicht sogar ausgeweitet werden. Aber unser Sozialstaat ist keine Wohlfahrt, sondern immer Ausdruck von Klassenkämpfen. 30 Jahre Neoliberalismus haben die Gewerkschaften geschwächt. Deshalb konnte auch der Sozialstaat angegriffen werden.
Wie sehen die Alternativen der Linken aus?
Soziale Sicherung ist mehr, als nur Existenzsicherung. Anhand der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst sehen wir, dass sich gesellschaftliche Entwicklungen zuspitzen und es bei den vor uns liegenden Verteilungskämpfen ans Eingemachte geht. Die Arbeitgeber fordern Sozialbeiträge auf 40 Prozent zu deckeln, weil sie schlicht ihren Anteil an den Krisenkosten nicht übernehmen wollen. Statt also darüber nachzudenken, Reichen bedingungslos ein Grundeinkommen zu zahlen, ist es in Anbetracht der uns bevorstehenden Verteilungskämpfe vielmehr unsere Aufgabe zu organisieren, dass auch Spitzenverdiener stärker an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligt werden. Und dabei geht es nicht nur darum, die richtigen Forderungen zu stellen. Wenn es nur das wäre, würden wir ganz anders dastehen. Verbesserungen werden wir nur erzielen, wenn wir Teil derjenigen sind, die tatsächlich für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpfen. Aber jeder auf seinem Platz oder in der Rolle, die er hat. Es geht nicht darum, das Kerngeschäft der Gewerkschaften zu machen.
Du bist auch Bundessprecher der innerlinken Arbeitsgemeinschaft „Betrieb & Gewerkschaft“, die eine offensive Intervention in gewerkschaftliche Kämpfe forciert und das gewerkschaftspolitische Profil der Partei Die Linke ausbauen will. Warum?
Wir haben ein Interesse an starken Gewerkschaften und an einer starken Linken. Wenn sich die Interessen der Beschäftigten erfolgreich nur im Konflikt durchsetzen lassen, dann muss die Linke diejenigen Kräfte in den Gewerkschaften stärken, die für eine konfliktorientierte Strategie stehen. Das geht aber nicht von außen, sondern nur aus der Klasse selbst heraus. Die Linke wird ihren Einfluss in den Gewerkschaften nur stärken können, wenn sie sich selbst die Strukturen dafür schafft. Dazu braucht es einen Fahrplan, für den wir als BAG (Bundesarbeitsgemeinschaft) im kommenden Parteivorstand werben möchten, weil wir davon überzeugt sind, dass es Grundvoraussetzung zur Stärkung unserer Partei ist.
Wie sieht dieser Fahrplan aus?
Die Erfahrung zeigt, dort, wo es eine relevante Anzahl linker Gewerkschafter gibt, die sich mit dem notwendigen Engagement und der dazugehörigen Zeit paart, entstehen lokale Strukturen, die gut arbeiten. Bisher allerdings mehr zufällig, als dass es einer politischen Strategie folgt oder politisch gesteuert würde. Gewerkschaftliche Diskussionen lassen sich auch nicht allein an der Basis beeinflussen. Sie brauchen auch den Austausch auf der Vorstandsebene. Der Aufbau einer belastbaren und regelmäßigen Kommunikation zwischen Parteispitze und den Vorsitzenden der Gewerkschaften ist dabei zentral. Die Etablierung eines Gewerkschaftsrats muss auch in unserer Partei endlich Praxis werden. Dieser braucht einen offiziellen Charakter und seine Beratungen sind in die Jahresplanung einzubinden. Mit dem Ziel, dass DIE LINKE und die Gewerkschaften ein Verhältnis zueinander entwickeln und einen regelmäßigen Austausch pflegen. Wo ist unser Platz, um für höhere Löhne zu kämpfen, und was ist unsere Rolle als Partei in diesem Setting? Wenn wir die Perspektive zur Durchsetzung kollektiver Interessen weiterhin ausblenden und immer nur unsere Forderungen rausposaunen, dann ist das am Ende keine linke Politik, sondern Charity.
Danke dir für das Gespräch.
Das Interview findet ihr im Original hier.