Arbeitszeitverkürzungen sind vor dem Hintergrund guter Arbeits- und Lebensbedingungen eine richtige Forderung und speziell in der Krise ein sinnvolles Instrument, um Beschäftigung zu sichern oder darüber den für den Strukturwandel notwendigen Qualifizierungsbedarf zu decken. Die Frage des Lohnausgleichs ist der Dreh- und Angelpunkt in dieser Debatte, meint unsere Bundessprecherin Ulrike Eifler.
Von Ulrike Eifler
Die Corona-Pandemie und der zweite Lockdown haben die Arbeitswelt in den letzten Monaten auf den Kopf gestellt. Derzeit sind 7,2 Millionen Menschen in Kurzarbeit. In der Stahlindustrie gibt es Standortschließungen, bei den großen Autobauern und in ihren Zulieferbetrieben Massenentlassungen und Stellenabbau. Aber auch in den anderen Branchen ist die Verunsicherung groß: Im Einzelhandel wird Kurzarbeit angemeldet, gleichzeitig drängen Unternehmen und konservative Parteien auf eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten. In der Gastronomie- und Hotelbranche werden aus Infektionsschutzgründen Restaurants, Cafés und Hotels geschlossen. Gleiches gilt für das Veranstaltungsmanagement und den Kulturbereich. Das Instrument der Kurzarbeit befeuert nun die Debatte um die Arbeitszeitverkürzung.
Vier-Tage-Woche
Den Aufschlag dazu hatte Katja Kipping in ihrem Sommerinterview gemacht und eine generelle Vier-Tage-Woche ins Gespräch gebracht. Die Lohndifferenz soll durch staatlich gezahltes Kurzarbeitergeld ausgeglichen werden. Der Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hoffmann, schlägt dieses Modell für die Metall- und Elektroindustrie vor, macht aber „einen teilweisen Lohnausgleich“ durch die Arbeitgeber zur Voraussetzung, ebenso wie Anreize, diese freie Zeit für berufliche Fortbildung zu nutzen. Arbeitsminister Hubertus Heil zeigt Sympathien für eine Vier-Tage-Woche und macht deutlich, dass er eine verringerte Arbeitszeit für geeignet hält, den Arbeitsmarkt zu stützen. Bis weit in den bürgerlichen Bereich hinein haben auch die Medien die neue Arbeitszeitdebatte aufgegriffen. So schreibt das Handelsblatt: „Wenn sich Gewerkschaften, Politik und Unternehmen nicht auf ein Modell zur Arbeitsabsenkung einigen, drohen Massenentlassungen.“[1] Und besonders erstaunlich: Auch das Arbeitgeberlager zeigt sich offen. So sagt Ariane Reinhart, Vorstandsmitglied der Continental AG, dass die Absenkung der Arbeitszeit ein sinnvoller Ansatz sei, um Produktivität zu sichern, Beschäftigungsperspektiven zu erhalten und diese durch Qualifizierung auszubauen.
So viel Einigkeit klingt nach einer Wende in der Arbeitszeitdebatte, denn in der Vergangenheit mussten kürzere Arbeitszeiten gegen den Widerstand der Arbeitgeber durchgesetzt werden.
Kampf um die 35-Stunden-Woche
Exemplarisch dafür steht der Kampf um die 35-Stunden-Woche. 1984 hatten IG Metall und IG Druck die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zur Tarifforderung erhoben. Die Arbeitgeber blockten sofort ab: „Keine Minute unter 40 Stunden“. Dabei hatten sie die Politik und die öffentliche Meinung auf ihrer Seite. Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die Forderung als „absurd, dumm und töricht“. Und die bürgerlichen Medien malten den Untergang der deutschen Wirtschaft an die Wand.
Die Arbeitgeber versuchten mit allen Mitteln, den Streik zu brechen. Sie reagierten mit „kalter Aussperrung“, das heißt, sie setzten die Beschäftigten, in deren Betrieben es zu streikbedingten Produktionsausfällen kam, ohne Lohn vor die Tür. Gleichzeitig verweigerte ihnen das Arbeitsamt die Zahlung von Kurzarbeitergeld, das ihnen normalerweise zugestanden hätte. Heinrich Franke, damals Chef der Bundesagentur für Arbeit, sagte, es gehe ihm darum, „den Arbeitskampf zu verkürzen“. Als schließlich überall in der Bundesrepublik Hunderttausende dagegen protestieren, erklärten auch die Gerichte den Franke-Erlass für rechtswidrig und machten den Weg frei für die Zahlung des Kurzarbeitergeldes. Der Druck zeigte Wirkung. Nur wenige Tage später gaben die Arbeitgeber nach: Bis 1995 sank die Arbeitszeit schrittweise auf 35 Stunden und das bei vollem Lohnausgleich. Die 40-Stunden-Mauer der Arbeitgeber konnte durchbrochen werden. Sieben Wochen Streik und ein breiter gesellschaftlicher Protest waren dafür notwendig.
Arbeitszeitverkürzung tariflich geregelt
In den 90er Jahren war dann ein Wandel in der Arbeitszeitdiskussion zu beobachten. Während bis dato kürzere Arbeitszeiten vor allem aus Gründen der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen angestrebt wurden, stand nun die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund. Betriebliche Formen der Arbeitszeitverkürzung, die der Beschäftigungssicherung dienten, rückten ins Zentrum. Das bekannteste Beispiel ist Volkswagen. Der Konzern hatte in den 80er Jahren zu sehr mit menschenleeren Fabriken experimentiert und war gegenüber seinen Konkurrenten in Rückstand geraten. 30.000 Arbeitsplätze sollten abgebaut werden. Weil aber Massenentlassungen mit Sozialplan in dieser Größenordnung sehr teuer gewesen wären, einigten sich Konzernleitung und IG Metall darauf, die Arbeitszeit auf 28,8 Stunden zu senken. Die Beschäftigten arbeiteten 20 Prozent weniger und bekamen zehn Prozent weniger Lohn.
Dass Arbeitszeitverkürzungen mehr und mehr zu einem Krisenlösungsmechanismus wurden, zeigt sich auch am „Tarifvertrag Beschäftigungssicherung“, den Arbeitgeber und IG Metall 1994 für die Metall- und Elektroindustrie vereinbart hatten. Er sollte zur Anwendung kommen, wenn Betriebe nicht mehr genug Arbeit hatten und Kurzarbeit nicht mehr möglich sein sollte. Über freiwillige Betriebsvereinbarungen sollte die Arbeitszeit vorübergehend von 35 auf 30 Stunden gesenkt werden können, um Entlassungen zu vermeiden. Ein Teillohnausgleich war nur für die Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg geregelt. „Anders als bei Kurzarbeit zahlen die Metall-Beschäftigten Arbeitszeitverkürzungen nach dem TV Besch also allein. Darum sieht die IG Metall in ihnen keinen Ersatz für Kurzarbeit. Der TV Besch soll nur dann zum Zuge kommen, wenn Kurzarbeit nicht (mehr) geregelt ist“, heißt es dazu im Arbeitslexikon der IG Metall. Während der Finanzkrise 2008/ 2009 gab es ein ähnliches Modell mit dem Namen „Zukunft für Arbeit“.
Geeignetes Instrument in der Krise
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Arbeitszeitverkürzung ein sinnvolles Instrument ist, um Beschäftigung zu sichern und Massenentlassungen zu verhindern. Er zeigt auch, dass es nicht die Arbeitszeitverkürzung selbst ist, die gegen die Arbeitgeber durchgesetzt werden muss, sondern der Lohnausgleich. Arbeitgeber wissen, dass sich kürzere Arbeitszeiten positiv auf Arbeitsorganisation und Betriebszeiten auswirken und eine wichtige Quelle von Produktivität und wirtschaftlichem Wachstum sein können.[2] Mittlerweile ist sich die Arbeitsforschung einig darüber, dass kürzere Arbeitszeiten den Produktivitätsfortschritt beschleunigen, denn sie führen dazu, dass betriebliche Abläufe effektiver werden. „Mehr Output wird nicht durch bessere Maschinen erreicht, sondern durch eine höhere Arbeitsdichte der Beschäftigten“, fasst Rudolf Zwiener vom Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zusammen.[3]
In der aktuellen Corona-Krise ist die Kurzarbeit das Hauptinstrument, um Kündigungen zu verhindern. Und weil es Firmen gibt, die länger brauchen, um die Krisenfolgen wegzustecken, wurde die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auf 24 Monate ausgeweitet. Die Vier-Tage-Woche wäre eine Regelung, die über die aktuelle Corona-Krise hinaus den Strukturwandel abstützen könnte. Die Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts Johanna Wenckebach hält sie deshalb für ein sinnvolles Instrument, vor allem weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Zeit brauchen, um sich für neue Jobanforderungen zu qualifizieren. Die Frage des Lohnausgleichs müsse aber im Zentrum stehen, weil es sich nicht alle Beschäftigten leisten könnten, auf Lohn zu verzichten.
Eine Frage der Kräfteverhältnisse
Arbeitszeitverkürzungen sind vor dem Hintergrund guter Arbeits- und Lebensbedingungen eine richtige Forderung und insbesondere in der Krise ein sinnvolles Instrument. Im Strukturumbruch kann über Arbeitszeitverkürzungen der für den Strukturwandel notwendige Qualifizierungsbedarf gedeckt werden. Auch deshalb ist die Frage des Lohnausgleichs der Dreh- und Angelpunkt in der Arbeitszeitdebatte. Seine Durchsetzung hängt jedoch nicht von der Beschlusslage ab, sondern von Kräfteverhältnissen. Der Druck dafür muss aus den Betrieben kommen und sich wie 1984 mit gesellschaftlicher Mobilisierung verbinden.
Der Kampf um die 35-Stunden-Woche zeigt aber auch, dass die Arbeitgeber alles tun werden, um die Ware Arbeitskraft so billig wie möglich einzukaufen. So ist 1985, nur ein Jahr nach der Tarifeinigung, das „Beschäftigungsförderungsgesetz“ in Kraft getreten, das Beschränkungen für Leiharbeit aufhob und befristete Arbeitsverhältnisse bis zu 18 Monaten in der Industrie erlaubte. Und 1996 kurz nach der vollständigen Umsetzung der 35-Stunden-Woche wurde diese Dauer auf 24 Monate ausgedehnt. Das Beispiel zeigt: Der Kampf um die Arbeitszeit ist ein Kampf um Verteilung. Mit steigendendem Kostendruck verkleinern sich verteilungspolitische Spielräume. Eine Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ist wie ein Lottogewinn für den Arbeitgeber, weil er Kosten einspart und sich die Produktivität erhöht. Gerade jetzt muss es darum gehen, den Transformationsprozess zu einer klima- und naturgerechten Produktion, die sich zudem an gesellschaftlichen Bedarfen orientiert, zu verbinden mit der Frage, wer für diesen Transformationsprozess zahlt. Eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich kann die richtige Antwort auf Arbeitsplatzsicherung, Qualifizierung und Umverteilung sein. Aber der Weg dahin ist alles andere als ein Selbstläufer.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der BAG Betrieb & Gewerkschaft
[1] Handelsblatt, 31.08.2020
[2] Vgl.: Bosch, Gerhard: „Arbeitszeitverkürzung, Entgelt und Beschäftigung“; Institut Arbeit und Technik, Gelsenkirchen 1997.
[3] Frankfurter Rundschau, 26.01.2019.