Heute wird das Bürgergeld-Gesetz in den Bundestag eingebracht. Es ist die umfangreichste Änderung der Grundsicherung für Arbeitsuchende der letzten zehn Jahre. Die Ampel erklärt stolz, so Hartz IV zu überwinden. Warum Jessica Tatti diese Aussage für völlig überzogen hält, erklärt die arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE im Gespräch mit unserem Bundessprecher Jan Richter. Denn auch bei aller notwendigen Kritik an der Höhe der Regelsätze dürfe nicht vergessen werden, zudem die Förderung von beruflichen Weiterbildungen und den Sozialen Arbeitsmarkt massiv auszubauen.
BAG Betrieb & Gewerkschaft: Liebe Jessica, die Ampel hat auf fast 150 Seiten ihre Vorstellungen zusammengestellt, wie Hartz IV überwunden werden soll. Was sind aus deiner Sicht darin die entscheidenden Inhalte?
Jessica Tatti: Die Regierung würde jetzt bestimmt antworten, dass statt Misstrauen und Behördenkultur nun Respekt, Vertrauen und Beratung auf Augenhöhe im Vordergrund stünden. Aus „Fordern und Fördern“ soll irgendwas mit „Chancen und Fairness“ werden. Ich sage, das ist schwer durch Paragraphen zu verordnen. Für die Betroffenen selbst sind sicherlich die 50 Euro mehr die relevanteste Änderung. Diese Anpassung kommt aber erst im Januar – kein Cent mehr als der Ausgleich der momentanen Inflation.
Die Anhebung der Regelbedarfe um bis zu 53 Euro bei Alleinstehenden ist doch die größte Erhöhung seit Einführung von Hartz IV.
Das ist mathematisch korrekt. Aber real bleiben die Leute genauso arm wir vorher. Die steigenden Preise, vor allem auf Energie und Lebensmittel, fressen die Erhöhung doch schon jetzt wieder auf. Die Regierung weiß genau, dass schon viele Klagen gegen den Regelsatz laufen. Letztlich will sie dem Bundesverfassungsgericht zuvorkommen. Wir dagegen fordern eine echte Erhöhung: 200 Euro mehr und den Strom extra. Die Regelsätze müssen endlich ohne miese Rechentricks ganz neu berechnet werden.
Kurz vor der Verabschiedung im Kabinett wurden die Freibeträge auf Erwerbseinkommen nochmal verändert. Auch Schüler, Studierende und Auszubildende sollen höhere Freibeträge aufs Erwerbseinkommen bekommen. Das ist doch zu begrüßen?
Natürlich ist es zu begrüßen, dass Schüler, Studierende und Auszubildende 520 Euro ohne Abzüge dazuverdienen dürfen. So kann man sich was für den Führerschein oder den Laptop sparen. Wer zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, hat so künftig bis zu 48 Euro mehr, weil der Freibetrag auf 30 Prozent steigt. Das freut mich für diese Personengruppe. Viele andere in Hartz IV können gar nicht so viel arbeiten, weil sie zum Beispiel alleinerziehend sind, Angehörige pflegen oder sich weiterbilden. Oder schlicht, weil sie keinen Job finden. All denen ist damit nicht geholfen. An einem ehrlich berechneten Regelsatz, mit denen man über die Runden kommt, führt kein Weg vorbei.
Wie bewertest Du die geplante zweijährige Karenzzeit beim Wohnen und beim Vermögen?
Die ist für Leute gut, die neu in Hartz IV kommen. Aber blöderweise hilft das denen nicht, die schon in Hartz IV sind. Rund 15 Prozent bekamen schon 2021, also bereits vor der Energiekostenexplosion, nicht die vollen Miet- und Heizkosten ersetzt. Wir fordern daher, dass als Sofortmaßnahme zumindest die Stromkosten aus dem Regelbedarf rausgenommen und in tatsächlicher Höhe bezahlt werden. Sperrungen von Strom und Heizung müssen in der jetzigen Krisensituation verboten werden.
Bis Mitte 2023 ist noch das Sanktionsmoratorium in Kraft, wonach Hartz-IV-Beziehenden das Geld nicht gekürzt werden darf. Wie wird es da weitergehen?
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 erklärte die Sanktionen teilweise für verfassungswidrig. Daher war das Sanktionsmoratorium bis Mitte 2023 überfällig. Aber mit dem Bürgergeld wird es wieder Strafen geben: Für verpasste Termine gibt es einen einmonatigen 10-Prozent-Abzug vom Regelsatz, bei sozusagen harten Sanktionen für drei Monate jeweils 20 Prozent, bei mehrfachen Verstößen sogar 30 Prozent weniger Regelsatz. Das ist natürlich besser als vorher. Aber insbesondere bei einem so niedrigen Regelsatz bedeutet das weiterhin Kürzungen unter das Existenzminimum. Und das lehnen wir ab. Die Aufnahme einer Arbeit, mit der man finanziell besser dasteht als vorher, ist ein viel höherer Anreiz als jede Sanktion. Das erfordert zwingend den Kampf gegen prekäre Beschäftigung und Tarifflucht.
Siehst Du in den geplanten Änderungen einen Abschied vom Prinzip des „Forderns und Förderns“?
Respekt und Augenhöhe kann man nicht ins Gesetz schreiben, Kontrolle und Misstrauen schon. Das hat das SGB II eindrücklich bewiesen. Mein Eindruck ist, dass die Ampel den politischen Generalverdacht gegen arme Menschen etwas runterfährt. Der Vermittlungsvorrang in prekäre Arbeit etwa wird aufgehoben – aber nur wenn eine berufsbezogene Weiterbildung gemacht wird. Ob und wie schnell sich die neuen Wünsche der Ampel in den Jobcentern durchsetzen, wird man sehen. Vor allem aber braucht es dann auch mehr Geld für bessere Beratung und mehr Hilfen für die Betroffen. Das gibt es aber nicht, im Gegenteil: Die Ampel kürzt massiv bei den Fördermitteln für Arbeitslose und den Verwaltungsmitteln der Jobcenter.
Die Arbeitgeberverbände und die CDU übertreffen sich derzeit gegenseitig mit ihrer Angst, dass sich nun alle in eine „soziale Hängematte“ legen werden, anstatt arbeiten zu gehen. Ist das Bürgergeld ein bedingungsloses Grundeinkommen?
Dieses absurde Gerede über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, wenn sie eigentlich Hartz IV ohne ganz so heftige Sanktionen meinen, regt mich auf. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist, wenn man einfach über alle Leute Geld auskippt, egal ob sie es brauchen oder nicht. Das will ich nicht. Ich will eine Existenzsicherung, die für ein bescheidenes, aber angstfreies Leben reicht. Ich will eine Existenzsicherung, die den Leuten den Kopf freier macht, damit sie entscheiden können, wie es für sie weitergehen soll – mit ihrer Arbeit, mit ihrem Leben und wie sie das erreichen können. Faul in der Hängematte liegen, das können sich Multimillionäre und Milliardäre mit ihrem ererbten Vermögen leisten – die Alleinerziehende, der arme Rentner oder Arbeitslose aber ganz sicher nicht.
Für die bessere Integration in Arbeit will die Bundesregierung, dass der Soziale Arbeitsmarkt auf Dauer im Bürgergeld-Gesetz verankert wird und es einen Weitbildungsbonus geben soll. Klingt erstmal nicht verkehrt, oder?
Es ist gut, dass der Soziale Arbeitsmarkt, also die Förderung sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze für langzeitarbeitslose Menschen, entfristet wird. Aber was nutzt das, wenn gleichzeitig die Haushaltsmittel massiv gekürzt werden? 2023 werden wir ungefähr gleich viele Leute in Hartz IV haben, aber rund 610 Millionen Euro weniger bei den Eingliederungsmitteln. Das fehlt beim Sozialen Arbeitsmarkt, das fehlt bei den beruflichen Förderungen. Den Weiterbildungsbonus von bis zu 150 Euro im Monat finde ich super – das hatten wir übrigens schon in der letzten Wahlperiode gefordert. Aber wenn es aus Geldmangel deutlich weniger Förderungen gibt, dann läuft das doch ins Leere. Schöne Worte schaffen keine bessere Situation, es braucht Geld. Sonst wird die Chance verspielt, dass Menschen die Zeit der Arbeitslosigkeit nutzen können, um ihr Leben zu verbessern.
Über viele Punkte haben wir jetzt schon gesprochen. Gibt es darüber hinaus etwas, was Du beim Bürgergeld vermisst oder gar falsch findest?
Mir fehlen vor allem Verbesserungen in der Sozialhilfe, bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Diese Menschen bleiben total unbeachtet von der großen Politik im Schatten. In der Sozialhilfe werden immer noch kleine Einkommen viel strenger angerechnet als in Hartz IV. Ich finde, dass ältere und erwerbsgeminderte Menschen, die einfach nicht voll arbeiten können, mehr von ihrem Arbeitseinkommen behalten sollten. Auch vor unfreiwilligen Umzügen müssen ältere und gesundheitlich eingeschränkte Personen besser geschützt werden.
Jessica, Hand auf Herz: das Bürgergeld die vielbeschworene Überwindung von Hartz IV oder ein Etikettenschwindel? Top oder Flop?
Das Bürgergeld-Gesetz ist das zwölfte Änderungsgesetz zu Hartz IV. Und es das erste, in dem keine weiteren Verschlechterungen, sondern sogar ein paar Verbesserungen für die Menschen drinstehen. Aber an der Logik des Hartz IV-Systems ändert sich nichts. Die Menschen bleiben auch mit dem Bürgergeld genauso arm wie vorher. Das Gesetz ist eine umfangreiche Reform von Hartz IV, nicht mehr. Den neuen Namen Bürgergeld verdient das nicht. Es bleibt Hartz IV.
Vielen Dank für das Gespräch.
Jessica Tatti ist MdB von DIE LINKE, Sprecherin für Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik und Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Jan Richter ist Sprecher der BAG Betrieb & Gewerkschaft und Mitglied im Vorstand der Partei DIE LINKE.
Zum Gesetzgebungsverfahren: Am 13.10.2022 wird das Bürgergeld-Gesetz erstmals im Deutschen Bundestag beraten. Die Fraktion DIE LINKE hat der ersten Lesung den Antrag „Sozialen Arbeitsmarkt ausbauen – 150.000 Langzeitarbeitslose in Erwerbsarbeit bringen“ beigelegt. Die öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales ist für den 7.11.2022 terminiert. Hierzu überweist die Fraktion DIE LINKE zwei weitere Anträge, die somit ebenfalls zum Beratungsgegenstand der Anhörung werden: „Regelsätze spürbar erhöhen – 200 Euro mehr gegen Inflation und Armut“ und „Sanktionen abschaffen – das Existenzminimum kürzt man nicht“. Die Anhörung kann hier nachgesehen werden. Die abschließende Behandlung im Ausschuss für Arbeit und Soziales erfolgte am 9.11.2022. Die abschließende Beratung und Zustimmung des Bundestages am 10.11.2022 kann hier nachverfolgt werden. Im Bundesrat wird das Bürgergeld-Gesetz von den Unions-regierten Ländern blockiert und der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat muss einberufen werden. Obwohl der Fraktion DIE LINKE das Bürgergeld nicht weit genug geht und sie diesem im Bundestag nicht zugestimmt hat, wird sich DIE LINKE im Bundesrat nicht an der rückwärtgewandten Blockade der CDU und CSU beteiligen. Hierzu liegt eine Erklärung vor, die hier nachgelesen werden kann.